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‚Einer muss es ja machen‘

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Irgendjemand kommt immer mit diesen und ähnlichen Äußerungen rüber.
Ein sicherer Job, gestorben wird immer‘, ‚Für mich wär‘ das nichts‘ … nur um die drei Spitzenreiter in der Bemerkungshitparade aufzuzählen.

Nach meiner Spreewaldtour letzten Sonnabend habe ich es gerade noch auf den Wochenmarkt am Zentralstadion, resp. Red Bull Arena, geschafft. Mein allerliebster-Lieblingsplattendealer war bereits am Packen. Für einen kleinen Kaffee im Pappkameraden hat er seine Aufräumaktion um ein paar Minuten verschoben. George* ist einer der wenigen, die ihr fliegendes Händlerdasein aus Berufung machen, keine festen Preise und immer ein freundliches Wort auch für eventuelle Nicht-Kunden haben. Ich schlage ihm vor, 3 Vinylscheiben für 5 Euro – er sagt JA. Ich biete ihm 10 Euro für einen kleinen Stapel eingeschweißter CDs Made in Russia – er sagt JA. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals NEIN gesagt hat. Er lebt wohl von der guten Leipziger Stadtluft.
Auch heute fiel ein mittelgroßer Stapel Silberlinge ab, deren Ursprungsland ich demnächst erst einmal eroieren muss – Made in PROC. Peoples Republic of China?
Egal; die Musik entschädigt, noch im Autoradio auf der Heimfahrt kocht sie volle Pulle über. Die Berliner Band um Frontmann Andreas Wieczoreck hat ein fast 200 Jahre altes Genre wiederentdeckt. Polkaholix stellen unmissverständlich klar: „Rock’n’Roll, Ska, Punk und Dance sind in Wahrheit Polka“. Sie sind der lebende Beweis für diese gewagte These. Ob Rosamunde oder Herz ist Trumpf, ob Rammstein oder Leo Leandros – es gibt kein Fettnäpfchen, das die Berliner Nachtschattenband nicht auslässt.

Ich schweife ab.
Jedenfalls dreht die erste dieser Scheiben in meiner ‚Smart‘en Musikanlage, ich fahre noch die Jahnallee in Richtung Innenstadt und muss auch am Sonnabend an jeder roten Ampel minutenlang warten. Leipzig halt. Mein kleiner schwarzer Dienstsmart ist dachlos unterwegs und Polka geht nicht leise. Die Passanten halten sich mitleidig die Ohren zu. „Ich fühl micht gut, ich steh‘ auf Berlin“ schallt aus dem Armaturenbrett, wenn man das in diesem Fahrzeug so nennen darf.
Darf man, denn die ebenfalls integrierte Freisprechanlage schaltet bei hochpegeldosierter Musik-Schallwelle auf optische Benachrichtigung. Welcher echte Benz kann das schon von sich behaupten? – Es muss sein, denn ich habe Bereitschaft. Marco* kann jederzeit durchklingeln. Höre und sehe ich das nicht, muss er wohl das nächste Mal allein in den Mückenspreewald düsen.

Warum erzähle ich das eigentlich? – Ach ja, mir ging gerade der nette, ältere Herr von neulich durch den Kopf. Er saß mit seiner ebenfalls netten, älteren Gattin in meinem Büro mir gegenüber. Wir besprachen die Beisetzungsformalitäten seiner Schwiegermutter, ihrer Mutter.
Sein Taschenrechner braucht den halben Schreibtisch und kostenlos Strom aus der Steckdose. Ist wohl ein kleines Kraftwerk. Vorsorglich schalte ich die Heizung runter. Es heizt auch so ordentlich im Raum.
Wir haben da und dort gestrichen und zu guter Letzt eine Minimalvariante aufs Papier gebracht. Ich würde mich schämen, dies meiner Mutter anzubieten, aber „es geht nicht ums Geld, sie wollte das so!“ Diesen Satz kenne ich auswendig, man sieht ihn dem gegenüber immer schon an der Nasenspitze an. Und „sie sind nicht der billigste Anbieter“. Als wenn ich das irgendwo behaupte.
Es ging noch eine Weile so weiter, traurig und schamlos …

Es sind nicht die Arbeitsbedingungen rund um die zu Bestattenden, es sind Verhaltensmuster mancher Hinterbliebener, die den Job psychisch und physisch belasten.
24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr, Montage wie Sonntage, Geburtstage wie Feiertage, sind wir anrufbereit, innerhalb von Minuten am Ort des Geschehens, egal, ob gerade der Tatort läuft, Eric Clapton in der Arena tourt, wir in Arbeitskluft den Rasen mähen oder für Opa das Mittag kochen. Auch beim freizeitlichen Tauchgang im Elster-Saale-Kanal höre ich das Bereitschaftsklingeln!
Die Gemeindeschwester, der Bereitschaftspolizist, der Feuerwehrmann haben ähnliche Berufsstrickmuster und werden aus Steuergeldern bezahlt. Wir führen diese dagegen ab.

Wenn also mal wieder in der Zeitung steht, Bestatter X zockt Kunde Y ab, dann nehmen Sie das zum Anlass und überschlagen, was Ihnen ein Rundum-Einsatz wert wäre.
Ich wechsle inzwischen die Scheibe im CD-Player. Die Band bleibt die gleiche
– und höre Polkaholix – Die Denkstepolka
– und ärgere mich über Berufskollegen, die die Hinterbliebenen abzocken.
©casus. 2013
*Figur und Name frei erfunden

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