Klaus* ist schwer vom Leben gezeichnet.
Das war nicht immer so. Bei der Mibrag hatte er große Bagger unterm Hintern, verdiente gutes Geld und gab es genauso gut für die Familie aus. Klaus hat ein weites Herz und eine liebe Seele. Er vermutet nichts Böses in der Welt um ihn herum.
Klaus ist 67 und nach einem Schlaganfall schwer behindert. Seine Frau starb vor 8 Jahren und sein Sohn hat einen Verkehrsunfall in Australien nicht überlebt.
Klaus lebt in einer kleinen 2-Raum-Wohnung in Grünau. Von 590 Euro Rente. Die Wohnung ist seine vierte. In den letzten 6 Jahren wurde er vom „Amt“ mehrfach in immer kleinere Wohnungen „umgesiedelt“. Nicht jedes Mal zu seinem Nachteil. Die jetzige „Platte“ ist trocken und warm. Die 209 Euro Miete muss er von der Rente bestreiten.
Bleiben 380 Euro. Damit liegt er über dem, was von Schreibtischtätern als Mindesteinkommen festgelegt wird. Unterstützung Fehlanzeige.
Wie gesagt, Klaus ist schwerbehindert. Er kann nicht mehr das Fahrrad benutzen, weil die Sehnerven seine Umgebung nur verzögert wahrnehmen. Die Reaktionszeit ist ausreichend für eine langsame Fortbewegung. Laufen geht nur mit Rollator. Das Gleichgewicht kann er sonst nicht halten.
Ich habe Klaus heute Vormittag wieder besucht.
Das Geld reicht vorn und hinten nicht, obwohl er an allem spart. Den in Reichweite liegenden Konsum meidet er wegen unbezahlbarer Preise. Um in den für ihn fast unerreichbaren Discountern einzukaufen, muss er einen ganzen Nachmittag einplanen, zwei Stunden Hinweg, Einkaufen und Aufwärmen, zwei Stunden zurück. 72 Euro Verwaltungsgebühr im Jahr für eine behindertenvergünstigte Straßenbahnfahrkarte bleiben nicht übrig.
Vor Jahren hat Klaus eine Vorsorge abgeschlossen. 3.300 Euro auf ein Treuhandkonto eingezahlt, damit das Leben wenigstens in Würde abgeschlossen werden kann.
Wir haben ihm davon schon mehrfach kleinere Beträge zurückerstattet. Soll er verhungern?
Alle Versuche, eine Pflegestufe oder 50 Euro staatliche Stütze zu erhalten, werden abgewiesen. Vielleicht fehlen zwei Minuten, weil er sich unter Schmerzen noch selbst Kämmen kann. In Wirklichkeit rutscht der Kamm eher über das Ohr. Die Hand kann er nicht besser koordinieren.
Heute hat er die Vorsorge gekündigt. Von dem Restbetrag gleicht er sein Minus aus und kann vielleicht mal wieder ein richtiges Schnitzel essen. Eine Dauerlösung ist nicht in Sicht.
Ich verabschiede mich und werfe noch einmal einen Blick in die Wohnung. Alles hat seinen Platz. Es ist ordentlich. Das einfache Bett, der nackte Holztisch und die beiden Stühle. Einziger „Luxus“ sind die Uraltschrankwand und das kleine Fernsehgerät. Ich hab es noch nie laufen sehen. Nein, nicht, weil es keine Füße hat. Der Strom ist zu teuer. Auf dem Boden liegt kein Teppich, blankes Linoleum.
Was macht Klaus, wenn der letzte Euro aus der Vorsorge aus besseren Zeiten verbraucht ist?
Das wird in vielleicht 5 oder in 6 Monaten sein. Vielleicht rettet er sich auch bis ins neue Jahr hinüber. Und dann?
Ich habe ihm in die Hand gelobt, dass er ganz in der Nähe von seinem Vati in Leipzig-Lindenau seine letzte Ruhe finden wird. Würdig. Nicht von Amts wegen verschachert. Das setze ich beim „Amt“ durch. Versprochen ist versprochen.
Wir verlassen die Wohnung in der ersten Etage, der Rolli steht im Treppenhaus parat.
Ich sehe ihm noch einmal nach auf seinen ersten 2-Stunden-Weg für heute. Er dreht sich nicht um.
Zurück in meinem Büro, kommen die Fünft- und Sechstklässler gerade aus der Schule. Einige von ihnen laufen direkt an meinen Schaufenstern vorbei. Sie rauchen, trinken Bier, Simsen mit ihren Smartphones und haben coole Sprüche in meine Richtung drauf. Jungs wie Mädchen, ohne Unterschied.
Schwer zu sagen, wer früher in Lindenau beigesetzt wird. Die Jugend hat gute Chancen.
©casus. 2013.
*Figur und Name sind nicht erfunden, aber geändert.
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